Nur bei 3% aller Menschen stehen die Zähne perfekt im Kiefer.
„Perfekt“ ist in diesem Falle eher als „nach Lehrbuch“ zu sehen. Natürlich müssen nicht 97% aller Menschen kieferorthopädisch behandelt werden. Trotzdem hat fast jedes zweite Kind in Deutschland eine behandlungsbedürftige Fehlstellung, bei der die Funktion (Kauen/Sprechen) oder die Zahnreinigung beeinträchtigt ist. Natürlich spielen auch ästhetische Ansprüche eine Rolle – wer möchte schon mit schiefen Zähnen herumlaufen, während man von Models im TV oder in Zeitschriften angestrahlt wird?
Trotzdem ist die Funktion der Zähne bei Patienten der gesetzlichen Krankenversicherungen der einzige Grund, weshalb eine Behandlung überhaupt durchgeführt werden darf.
Damit Sie einen Überblick über die häufigsten Fehlstellungen bekommen, werden wir diese im Folgenden kurz vorstellen und allgemeine Informationen zu den einzelnen Krankheitsbildern gegeben:
Engstand / Platzmangel
Wie der Name bereits vermuten lässt, haben die Zähne zu wenig Platz im Kiefer. Als Folge kommt es häufig zu Schachtel- oder Außenständen verschiedener Zähne. Die folgende Abbildung zeigt ein Beispiel für einen Engstand, der durch Platzmangel verursacht wird.
Wie kann es dazu kommen, dass die eigenen Zähne zu wenig Platz im Kiefer haben?
Ursachen
Es gibt verschiedene Gründe für das Auftreten eines Platzmangels. Zum einen spielen genetische Ursachen eine Rolle. In diesem Fall passen die vererbten Eigenschaften nicht zusammen, der Patient hat ein so genanntes „Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße“ oder einen „primären Engstand“.
Ein Grund, der nicht auf die Vererbung zurückzuführen ist, liegt vor, wenn Milchzähne in Folge von Karies oder Unfällen zu früh verloren gehen. Die Milchzähne sind nicht nur zum Kauen da, sondern haben auch noch eine wichtige Funktion als „Platzhalter“ für die bleibenden Zähne. Fehlt dieser Platzhalter, kann es sein, dass die bleibenden Zähne nach vorne hin aufwandern – es entsteht ein Platzmangel. Dieses Phänomen wird auch als „Stützzonenaufwanderung“ oder „sekundärer Engstand“ bezeichnet. In diesem Fall hätte der Engstand durch gute Zahnpflege oder das frühzeitige Einsetzen eines Lückenhalters verhindert werden können.
Behandlung
Die kieferorthopädische Therapie hängt von den vorhandenen Ursachen und der Ausprägung des Engstandes ab. Leichter Platzmangel im Oberkiefer kann häufig problemlos mit herausnehmbaren Spangen behoben werden. Auch kleinere Aufwanderungen von bleibenden Backenzähnen kann man mit herausnehmbaren oder festsitzenden Spangen korrigieren. Bei einem großen Missverhältnis zwischen der Zahn- und der Kiefergröße kommt es jedoch öfters vor, dass bleibende Zähne entfernt werden müssen, damit man die restlichen Zähne in einen harmonischen Zahnbogen stellen kann. Auch bei einer Aufwanderung bleibender Backenzähne durch vorzeitigen Milchzahnverlust kann es zu starkem Platzmangel kommen, welcher später nur noch durch die Extraktion bleibender Zähne zu korrigieren ist. Natürlich ist die Entscheidung zum Ziehen bleibender Zähne nicht leichtfertig zu treffen. Der Behandler wird daher immer versuchen, das Ziel ohne Extraktionen zu erreichen. In manchen Fällen ist diese Maßnahme aber die einzige Möglichkeit, die anderen Zähne dauerhaft gesund zu halten – so paradox dies auch zunächst klingen mag.
Platzüberschuss
Im Gegensatz zu einem Engstand kann man bei einem Platzüberschuss mehr oder weniger große Lücken zwischen den einzelnen Zähnen erkennen. Die Zähne selbst stehen meistens regelmäßig im Zahnbogen, sehen aber dabei so aus, als wären sie zu klein für den Kiefer.
Ursache
Der Hauptgrund liegt beim Platzüberschuss in der unterschiedlichen Vererbung von Zahn- und Kiefergröße. Auch wenn bleibende Zähne nicht vorhanden sind, entsteht meist ein Platzüberschuss.
Behandlung
Wenn keine Probleme beim Kauen oder Beißen vorliegen, so muss der Platzüberschuss nur selten behandelt werden. Ein vollständiger Lückenschluss ist bei einem ausgeprägten Platzüberschuss kaum zu erreichen. Und selbst wenn es gelingt, alle Lücken komplett zu schließen, bleibt das Ergebnis nur selten stabil.
Vergrößerter Überbiss, Rücklage des Unterkiefers
Von einer vergrößerten Stufe, im Volksmund auch als „Überbiss“ bezeichnet, spricht man dann, wenn die oberen Frontzähne weit über die unteren hinausschauen. Im Normalfall sollten beim Zusammenbeißen die oberen Schneidezähne 2-3 mm vor den unteren Frontzähnen stehen. Ist diese Stufe vergrößert, ist eine kieferorthopädische Behandlung fast immer sinnvoll. Nicht nur, um das Aussehen und die Funktion des Gebisses zu verbessern, sondern auch, um die Unfallgefahr für die Zähne zu verringern. Bei stark vorstehenden Schneidezähnen reicht ein unglücklicher Sturz im Kindesalter aus, um bleibende Zähne dauerhaft zu schädigen. Die folgende Abbildung zeigt ein Beispiel für eine vergrößerte Stufe.
Ursache
Die Gründe für eine vergrößerte Stufe sind vielfältig. Zum einen spielt die genetische Veranlagung eine Rolle. Rücklagen des Unterkiefers oder Vorlagen des Oberkiefers können ein Grund für eine vergrößerte Stufe sein. Zum anderen sind es häufig schädliche Angewohnheiten der Patienten, welche die Zähne in ihre falsche Stellung bringen. Deshalb sollte zum Beispiel der Nuckel oder das Lutschen am Daumen ab dem 3. Lebensjahr langsam abgewöhnt werden. Auch das Einsaugen der Unterlippe zwischen die Zähne hat einen ähnlich ungünstigen Effekt. Durch den andauernden Druck beim Lutschen oder Saugen kommt es mit der Zeit zur Vorkippung der oberen Frontzähne. Dadurch wird das Abbeißen von Nahrung erschwert, gleichzeitig kommt es zu einer ästhetischen Verschlechterung. Die schädlichen Angewohnheiten („Habits“) können mit Hilfe von Zahnarzt oder dem Logopäden problemlos abgestellt werden, häufig kommt es nach Beendigung des Habits rasch zu einer spontanen Normalisierung der Zahnstellung.
Bei Rücklagen des Unterkiefers und/oder Vorlage des Oberkiefers reichen diese Maßnahmen nicht aus, es muss kieferorthopädisch behandelt werden.
Behandlung
Bei einer vergrößerten Stufe aufgrund falscher Kieferlage kann man im Kindesalter mit herausnehmbaren Spangen sehr viel erreichen. Ziel ist es immer, die Kiefer in eine günstige Lage zueinander zu bringen. Sehr gerne werden hierfür funktionskieferorthopädische Geräte eingesetzt. Die Korrektur der Kiefer zueinander mittels herausnehmbarer Behandlungsgeräte funktioniert jedoch nur dann vernünftig, wenn sich der Patient noch im Wachstum befindet. Deshalb wird mit der Bisslagekorrektur häufig zu Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung begonnen. Ab einem Alter von 12 (Mädchen), bzw. 14 Jahren (Jungen) wird es schwierig sein, die Kiefer in richtige Position zueinander zu bringen. Dann muss man über Alternativmethoden nachdenken.
Man erkennt also, dass gerade in Fällen mit vergrößerter Stufe möglichst früh gehandelt werden sollte. Dann sind diese Fehlstellungen meistens gut therapierbar.
Progener Formenkreis
Von Fehlstellungen des progenen Formenkreises spricht man, wenn die unteren Schneidezähne vor den oberen stehen.
Ursachen
Auch für Fehlstellungen des progenen Formenkreises kann es mehrere Gründe geben. Bei einer echten Progenie ist der Unterkiefer zu stark entwickelt, so dass vernünftiges Abbeißen oder Kauen nicht mehr möglich ist. Gleichzeitig wird das Gesichtsprofil als ästhetisch ungünstig angesehen, weshalb viele Patienten mit ihrem Aussehen unzufrieden sind. Echte Progenien sind vererbbar, viele Progenie-Patienten haben Familienangehörige, die ebenfalls diese Fehlstellung aufweisen. In der folgenden Abbildung sehen Sie ein Beispiel für eine Progenie:
Daneben gibt es falsche Verzahnungen einzelner Schneidezähne bei ansonsten normaler Lage der Kiefer zueinander. Schuld sind oft einzelne Zähne, die nicht da in die Mundhöhle gekommen sind, wo man es sich gewünscht hätte. Auch ein verzögertes oder gehemmtes Wachstum des Oberkiefers kann ein Grund für einen verkehrten Überbiss einzelner Zähne sein.
Behandlung
Glücklich können sich die Patienten schätzen, die nur einen verkehrten Schneidezahnüberbiss haben. Diese Fehlstellung kann meistens schnell und problemlos behandelt werden. Zum Einsatz können herausnehmbare, wie auch festsitzende Zahnspangen kommen. Bei herausnehmbaren Behandlungsgeräten ist allerdings während der Überstellung ein wenig Fleiß angesagt: Die Spangen müssen hier – außer beim Essen oder Zähneputzen – ständig getragen werden, damit man die oberen Schneidezähne an den unteren vorbeibewegen kann.
Als Belohnung winkt allerdings ein rascher Behandlungserfolg, der sich oft schon nach wenigen Wochen zeigt.
Echte Progenien sind weitaus schwieriger in den Griff zu bekommen. Ziel der kieferorthopädischen Behandlung ist es, das Wachstum des Unterkiefers zu hemmen und/oder die Entwicklung des Oberkiefers zu fördern. Dadurch wird die Therapie meistens langwierig und verlangt vom Patienten ein hohes Maß an Ausdauer und Motivation. Trotzdem gelingt es nicht immer, eine starke Progenie nur kieferorthopädisch zu korrigieren. In einigen Fällen ist nach Abschluss des Wachstums eine chirurgische Verlagerung eines oder beider Kiefer notwendig, um ein vernünftiges Ergebnis zu erreichen.